Natürliche Streitkultur: Die tiefe Nähe von Zwillingen macht Streiten möglich, denn Streiten und Vertrauen gehören zuSammen.
- Annika Viktoria Ritter
- 22. Jan. 2024
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. März 2024
Konflikte und Streit werden immer noch als etwas Unangenehmes angesehen. Unter Zwillingen ist das oft anders. Niklas erzählt, wie sehr das hohe Vertrauen zu seinem Bruder die Sicherheit gab oft zu streiten und wie es ihn genervt hat, wenn das Aussen versucht hat ihre Beziehungshygiene zu unterbinden.
Ich bin eineiiger Zwilling und als Wir mit einem 3D-Spiegel auf die Welt gekommen. Die Twinterviews bestätigen und objektivieren meine Selbsterforschung meiner Twin Perspective.
Ich traf Niklas Seiffert zum Twinterview. Niklas war zum Zeitpunkt des Interviews 26 Jahre alt und studierte Medizin. Er ist zweieiiger Zwilling von einem Bruder.
Mit Niklas spreche ich über die Streitkultur unter Zwillingen und was man daraus für Beziehungen lernen kann.
Was wir von der Streitkultur der Zwillinge lernen können!
1. Streiten ist für Zwillinge Beziehungshygiene und völlig in Ordnung!
«Uns im Doppelpack konnte man nur mit Streit haben», erzählt mir Niklas.
Niklas berichtet mir, dass sie sich als Kinder wie ein altes Ehepaar über Kleinigkeiten gestritten haben. In einem Moment haben sie sich angeschrien, im nächsten war alles wieder gut. Sie haben sich alles an den Kopf geworfen, weil sie sich so sicher fühlten. Ihre gemeinsamen Freunde kannten sie nur so. Und wenn ihr Umfeld ihre Streitkultur unterbinden wollte, waren sie sehr genervt.
Ihr Streit diente als eine Art Beziehungshygiene, um ihre grosse Nähe auszugleichen und ein wenig Distanz zu gewinnen. Sich mit dem Bruder zu streiten, war etwas ganz Normales und in Ordnung. Und es war auch in okay, wenn andere sich in ihrer Gegenwart stritten.
«Lass sie doch streiten». sagt er zu seinen Freunden, wenn sie die Konflikte anderer beenden wollen.
Da er Streiten als etwas Normales empfand und es jahrzehntelang mit seinem Bruder geübt hatte, fühlte er sich immer sehr kompetent und sicher, wenn er sich mit anderen stritt. Seine Ex-Freund*innen meinten, dass er sie in Grund und Boden diskutieren würde.
2. Die Distanz erschwert das Streiten.
Seit sie 20 Jahre alt sind, gehen Niklas und sein Bruder getrennte Wege und führen ihr eigenes Leben. Im Gespräch denkt Niklas darüber nach, dass er sich heute weniger mit seinem Bruder streitet, weil sie weniger Vertrauen zueinander haben. Ihm wird bewusst, dass Streiten etwas mit Vertrauen zu tun hat. Sie hätten beide nicht mehr das Gefühl, dass ihre Beziehung einen heftigen Streit aushalten könnte.
Zwillinge haben eine so starke Bindung und Vertrauen zueinander. Sie erlauben sich zu streiten, weil sie wissen, dass ihre Beziehung das aushält und nicht gefährdet ist. Er erwähnt auch, dass dies umso interessanter ist, da ihre Streitigkeiten oft grenzenlos waren und die tiefsten Dinge an die Oberfläche kamen.
Als ich ihn frage, ob er schon einmal Liebeskummer mit seinem Bruder hatte, ist Niklas berührt und erzählt mir, dass er sich gerade am Wochenende mit seinem Bruder gestritten hat und sie sich getrennt haben, ohne ihren Konflikt gelöst zu haben. Und ja, interessanterweise kennt er den Liebeskummer mit seinem Bruder.
3. Bewusste Streitkultur ist Arbeit
Niklas erzählt mir im Gespräch, dass sie sich oft gestritten hätten, ohne zu einer Klärung zu kommen. Für sein Umfeld wären vor allem die Konflikte schwierig gewesen, bei denen es nur darum ging, die Emotionen ungefiltert rauszulassen.
Erst die Schuldfrage hätte dann den Streit beendet. Deshalb sei es ihnen sehr wichtig gewesen und sie hätten, um die Schuldzuweisung gekämpft. Je näher man sich stehe, desto eher kenne man auch seine gegenseitigen Stellschrauben und könne sich dadurch sehr verletzen.
Heute legt er Wert auf eine bewusstere Streitkultur. Er versucht, sich in den anderen hineinzuversetzen, um ihn und seine Emotionen im Streit zu verstehen. Das erfordert aber eine Investition.
4. Selbstanalyse und Selbsterkenntnis sind der Schlüssel.
Niklas ist der Zweitgeborene. Nur 2-3 Minuten trenne die beide, denn sie kamen per Kaiserschnitt auf die Welt. Und obwohl oder vielleicht gerade weil es nur 3 Minuten sind, war das Thema «älterer» versus «jüngerer» Bruder immer ein grosses Thema.
Im Gespräch spiegeln wir uns gegenseitig, denn er erklärt mir, warum er sich dagegen wehrte, als jüngerer Bruder wahrgenommen zu werden. Aus seiner Sicht war er stärker als sein Bruder, weil er seinem Bruder den inneren Rückhalt für sein «freches» Auftreten nach aussen gegeben hat. Aus seiner Sicht hat er seinen Bruder verteidigt und dieser hat von seiner Stabilität profitiert.
Ich muss schmunzeln, denn ich habe die andere Seite erlebt. Polarität. Als Erstgeborene habe ich mich und meine Schwester als Kriegerin nach aussen vertreten. Ich habe für unsere Werte gekämpft und dafür doppelt Schläge bezogen. Meine Schwester hat dann für Frieden gesorgt.
Niklas merkt, dass er in seiner Wahrnehmung etwas übersehen hat. Denn beide hatten ihre Freiheit, alles sein zu dürfen, aufgegeben, um ein Team zu sein. Das kannte ich.
5. Die Natur macht es vor: ohne Emotion lösen sich Konflikte nicht gelöst
Zwillinge streiten schon im Mutterleib. Dort gibt es keine Richter*in, die sie dafür verurteilt. Sie streiten und lösen ihre Probleme selbst. Mit diesem organischen Training und Vertrauen kommen sie auf die Welt.
Die Streitkultur lernt der Einling erst in der nächsten Beziehung. Meistens Mutter und Vater. Aber die wenigsten von uns hatten gute Vorbilder und konnten eine gute Streitkultur lernen.
«Hört auf zu streiten» haben viele Kinder so verinnerlicht, dass wir uns beim Streiten unwohl fühlen, es vermeiden, klein beigeben oder erst emotional werden, wenn das Fass schon längst übergelaufen ist.
Doch gerade in einer Partnerschaft ist eine gesunde Streitkultur wichtig, um sich selbst und seine Werte nicht zu verlieren. Streiten ist nicht nur in einer Beziehung gesund, sondern auch in einer Gesellschaft. Diskutieren, eine andere Perspektive einnehmen können und dann gemeinsam um die beste Lösung ringen, das ist das Wesen der Demokratie.
Sehr lange wurde die Meinung vertreten, dass konstruktives Streiten bedeutet, sachlich zu bleiben, keine Emotionen zu zeigen und keine direkte Kritik zu üben.
Eine sehr theoretische Sicht. Wenn ich innerlich koche und meine Emotionen hinter sachlichen Argumenten verstecke, dann ist das für ein sensibles Gegenüber wahrnehmbar und gerade, weil versteckt, sehr heftig.
Frauen sind der Natur auch physisch mit ihrem Körper nahe und oft noch emotionaler. Oft werden sie «unsachlich» laut oder weinen. Wie Donner, Blitz und Regen.
Heute integrieren Psychologen die Emotion wieder in die Streitkultur, ganz im Sinne der Natur. Denn entscheidend ist nicht, welche Emotionen man im Affekt zeigt, sondern wie man sie hinterher bei sich selbst analysiert und löst.
Die konstruktive Diskussionskultur will gelernt sein und bedeutet vor allem an sich selbst zu arbeiten.
Twin-Tipp: für konstruktives Streiten vom Zwilling
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1. Verbindung: Bist du mit dir selbst verbunden? Wenn du sicher in deiner Verbindung mit dir selbst bist, erlaubst du dir zu streiten. Streiten bedeutet, für deine Werte einzustehen und einen anderen Menschen zu verstehen, der für seine Werte einsteht. Die Grundlage, um streiten zu können, ist die Verbindung zu dir selbst und damit zu deinem Gegenüber. |
2. Kompromiss: Bei der Streitschlichtung geht es um das Bewusstsein, dass man nur dann zu einer erfolgreichen Lösung kommt, wenn man gemeinsam einen Kompromiss, die Mitte, findet. Dazu muss man nicht einmal einer Meinung sein, es reicht, wenn man den anderen in seiner Meinung respektiert und sich auf einer höheren Ebene verbindet. |
3. Hingabe: Wenn dein Gegenüber sich von dir trennt, akzeptiere und verbinde dich bewusst auf einer höheren Ebene mit dir selbst. Was lehnst du im anderen unbewusst ab? Wenn du selbst Ablehnung bist, nutze sie, um den Schatten dahinter zu erkennen. Was lehnst du an dir selbst ab, dass dir der Spiegel zeigt? |
4. Stille: In der bewussten Stille stellst du eine tiefe Verbindung auf einer anderen Ebene her. Dazu gibt es verschiedene Möglichkeiten. Meditation, Singen, Tanzen oder gemeinsames Spielen sind hilfreich. Der schnellste Weg ist jedoch das gemeinsame Gebet. (Unabhängig von Religion oder Weltanschauung) |
5. Empathie: Um deine Emotion, zum Beispiel Wut, aufzulösen, hilft vor allem Empathie mit dir selbst. Denn wenn du dich in dich selbst einfühlen kannst, dann kannst du dich auch in eine andere Person einfühlen. |
6. Augenhöhe: Überlege, ob dein Gegenüber auf Augenhöhe mit dir ist (körperlich, geistig, emotional) und handle entsprechend. Je bewusster du bist, desto mehr Verantwortung trägst du in dir, mit wem du in den Kampf gehst. |
7. Hilfe: Wenn du Hilfe brauchst - sprich mit deinem Gegenüber und beauftrage gemeinsam einen unparteiischen Dritten. (Expert*in, Moderator*in, Coach) |
Blick in den 3D-Spiegel: Konflikte lösen sich vor allem durch Selbsterkenntnis
Vor einigen Jahren hatte ich ein schönes Erlebnis mit meinem Vater. Ich war mit ihm bei einem Coach. Nach kurzer Zeit sagte die Coachin zu meinem Vater:
«Sie können nicht streiten. Sie wollen Harmonie und unterdrücken die Diskussion. Bis das Fass überläuft.»
Meine Eltern hatten nie richtig streiten gelernt, so wie viele unserer Eltern und deren Eltern. Als eineiige Zwillinge mit einer natürlichen Streitkultur waren wir ihr klarster Spiegel, und sie wurden unsere Richter. Ich wurde zur Kriegerin, meine Schwester zur Friedensrichterin.
Um ganz zu werden, musste ich meinen kriegerischen Weg verlassen und erkennen, warum ich mich nicht mehr zu streiten traute. Wir müssen bereit sein, unsere Muster zu erkennen, an uns zu arbeiten, um wieder wahrhaft streiten zu können. Das gilt für jeden Einzelnen, aber auch für Gesellschaften und Nationen.
Buche jetzt ein Coaching zusammen mit deiner*m Partner*in und lerne bewusst auf Augenhöhe zu streiten.
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